Stephan Mösch

Was uns an der Stimme von Frida Leider betört

"Rache! Tod! Tod uns beiden!": Nicht nur als Isolde hat die große Wagner-Sängerin mit ihrer Strahlkraft Maßstäbe gesetzt bis heute

Beim Blick auf die Fotos erschrickt man. Brünnhilde mit Flügelhelm und Brustharnisch, Isolde mit langen Zöpfen und Diadem, große Gesten, weit aufgerissene Augen: Kann uns Wagner ferner sein? Die Berlinerin Frida Leider, Jahrgang 1888, beendete ihre Opernkarriere Ende der dreißiger Jahre. Da waren Pappfelsen für Walküren die Norm und die Zeit von Kreis, Scheibe und Abstraktion noch weit. Blättert man jedoch in der Literatur zur Geschichte des Gesanges, dann stößt man immer wieder auf einen mal dezent durchklingenden, mal emphatisch formulierten Superlativ: Frida Leider sei die bedeutendste dramatische Sopranistin ihrer Zeit gewesen, und da ihre Zeit die bedeutendste des Wagner Gesanges gewesen sein soll, folglich die wichtigste überhaupt. Zumindest die wichtigste aus Deutschland. Darauf könnte man sich vermutlich sogar mit den Verehrern von Helen Traubel und Kirsten Flagstad einigen.

Sängerinnen und Sänger von heute zucken bei solchen Urteilen meist verletzt mit den Schultern. Sie sind das ewige Früher-war-alles-besser leid. Sie fühlen die Stildifferenzen und hören aus den alten Aufnahmen einen fremdartigen Gestaltungsgeist. Sie wissen, daß es zur Selbstfindung eines Sängers keineswegs erforderlich ist, daß er sich Vorgänger im gleichen Stimmfach anhört. Wer hat etwas davon, wenn die Gegenwart des Wagner-Gesangs immer wieder als defizitär belächelt wird, unter Verweis auf die Legenden der goldenen Zwanziger und Dreißiger? Agenten, Publikum und aktuelle Karriereverläufe kümmern sich nicht darum. Sind es nicht ohnehin nur ein paar Spezialisten und eine Herde Aficionados, die Höhepunkte vokaler Wagner-Kunst stets in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts suchen und finden?

Der Vorwurf lautet: Am Rauschen läßt sich's leicht berauschen. Man kann es auch als Verdacht formulieren. Sind die Hymnen auf historische Platten nicht Fluchtversuche kompensierender Geister, die sich einer Auseinandersetzung mit dem heutigen vokalen Stand verweigern? Vor allem: Werden da nicht schräge Idole geschaffen? Idole, deren Zugkraft darin besteht, daß sich ihre Kunstleistung nicht wirklich überprüfen laßt, weil sie durch Unzulänglichkeiten der Aufnahmetechnik nur rudimentär überliefert ist und eine beträchtliche akustische Phantasie dazu gehört, diese Kunstleistungen vor dem inneren Ohr zu komplettieren. Das gilt für den Gesang mehr als für Klavierplatten. Und es gilt auch noch für die Zeit von Frida Leider, in der elektrische Aufnahmen die akustischen ablösten. Ganz abgesehen davon, daß man, ohne die Bühnenpräsenz eines Sängers erlebt zu haben, sowieso vorsichtig mit Urteilen sein sollte.

Nun sind unter denjenigen, die vor Lotte Lehmanns Sieglinde, Lauritz Melchiors Tristan oder dem Siegfried des Max Lorenz noch heute in die Knie gehen, obwohl sie nur Platten kennen, natürlich nicht nur weltfremde Schwärmer. Es sind auch seriöse Wissenschaftler darunter, und es ist eine Theorie im Umlauf: Der Typus des Wagner-Sängers sei erst nach des Meisters Tod richtig aufgekommen und im Fahrwasser seiner Epigonen weit von der Quelle weggetrieben worden. Erst nach Phasen gefährlicher Spezialisierung, stilistischer Mißverständnisse (Konsonantenspuckerei) und einer internationalen Verbreitung der Stücke habe sich eine Balance hergestellt, die zurückführe zu dem, was Wagner eigentlich wollte: zum "deutschen Belcanto", wie er ihn unter anderem in seinem Programm für eine in München geplante Musikschule beschreibt.

Damit landet man wieder bei Frida Leider. Denn sie habe, so ist weithin zu lesen, Wagner mit einer italienisch geschulten Technik gesungen, damit seinen Forderungen optimal entsprochen. Diese These freilich ist nichts anderes als die Fortschreibung ihrer Memoiren. Dort nämlich - das Buch ist 1959 erschienen - bezeichnet Frida Leider einen "Ring"-Zyklus an der Mailänder Scala als Schlüsselerlebnis. Sie habe die komplette Brünnhilden-Partie auf italienisch umlernen müssen. Das sei zwar Knochenarbeit gewesen, habe aber schließlich ihre Technik fundiert und einen neuen Zugang zum Wagner-Gesang eröffnet.

Wie hat Frida Leider gesungen? Die Frage ist nicht so banal, wie sie klingt. Sie ist keineswegs nötig, weil Frida Leider vor dreißig Jahren gestorben ist und im Kriegsjahr 1915 als Venus in Halle ihr Bühnendebüt gab. Sie kann aber sehr aktuell sein, wenn man sie als Frage nach Maßstäben versteht. Dann würde sie heute lauten: Muß man Leiders Isolde kennen, um Nina Stemme wirklich beurteilen zu können, oder reicht das Umfeld zwischen Waltraud Meier und Deborah Voigt? Man kann die Frage auch in Richtung Medienpolitik wenden. Dann stellt sich heraus, daß sich an historischen Aufnahmen und daran geschultem Hörbewußtsein die Geister scheiden: Was den einen als unzumutbar für Hörer und Leser erscheint, ist für andere der Humus adäquaten Verstehens.

Die Unvorhersehbarkelt der Klangfarben

Noch einmal also: Was kann man hörend rekonstruieren von Frida Leiders Singen? Und was haben wir davon? Fangen wir mit einer Nebenfacette an: Das Verhältnis von Live- und Studioaufnahmen war vor dem Zweiten Weltkrieg genau umgekehrt wie heute. Entspannt, präzise, bei sich selbst waren Künstler wie Frida Leider auf der Bühne. Studios dagegen waren damals Zwangsanstalten, in denen der Klang kastriert wurde und Tempi sich nicht nach dem Musikempfinden, sondern nach der Spieldauer technisch möglicher Aufnahmehäppchen zu richten hatten. Wer Leiders Isolde, ihre Erfolgspartie, mit der sie den Sprung aus der Rostocker und Königsberger Provinz nach Hamburg und 1921 an die Berliner Staatsoper schaffte, von den Matrizen der Jahre 1928 oder 1931 kennt, der kennt sie kaum. Frida Leiders vokale Phantasie scheint entscheidend von Bühnenerleben inspiriert.

Deshalb ist es so wichtig, daß die in Berlin ansässige Frida-Leider-Gesellschaft, zu der auch prominente Mitglieder wie Dietrich Fischer-Dieskau oder Brigitte Fassbaender gehören, Ausschnitte aus einer "Tristan"-Aufführung der Metropolitan Opera vom März 1933 so weit als möglich technisch verbessert und auf CD zugänglich gemacht hat. Da nämlich ahnt man, durch viel Knistern hindurch, welches Format diese Isolde gehabt haben muß Für ihren Fluch ("Rache! Tod! Tod uns beiden!"), dessen Spitzennoten Wagner halbtonweise nach unten führt, steigert Frida Leider nicht einfach die Dynamik. Was wächst, ist weniger die Lautstärke als vielmehr inneres Volumen und Strahlkraft des Tones. Damit dominiert ein genuin stimmlicher Parameter über oberflächliche Textnähe. Nicht auf die Worte "Rache" und "Tod" oder den damit verbundenen Vokalwechsel kommt es Frida Leider an, sondern auf eine physische Weitung des Tonraumes, die der Erregung der Situation entspricht. Nicht die Stimme als solche wird in dramatischere Regionen geführt, sondern der Körper, der diese Stimme bildet, stellt unerwartete Klangräume bereit. Frida Leider ist nicht die einzige, die das konnte, aber sie setzt es charakteristischer ein als andere, auch spätere Sänger. Und es ist heute im Wagner-Fach selten geworden. Man hört, aus welchen Reserven Frida Leider schöpfen konnte und wie genau sie damit haushielt. Insofern bewahrheitet sich die alte Sängerregel, nach der es wenig bringt, die Stimme einem Raum oder einem Orchester anzupassen. Sie macht das von alleine - wenn man sie läßt. Erstes Hörergebnis: Passivität, verstanden als innere Bereitschaft, als Zulassen physiologischer Prozesse, gehört wesenhaft zu Frida Leiders Singen.

Der Text spielt dabei keineswegs eine so große Rolle wie den wichtigen unter den späteren Isolden, etwa bei Catarina Ligendza. Zwar verzahnt Frida Leider stets - das mag ihrer italienischen Schule geschuldet sein - Vokale und Konsonanten besonders eng, bleibt dabei biegsam im Ton. Doch Naturalismus der Sprache ist ihr fremd. Wenn sie wirklich einmal ein Wort heraushebt, dann wirkt das, etwa im Rezitativ der Leonoren-Arie von Beethovens "Fidelio", fast naiv. Semantische Virtuosität wurde erst eine Generation später zur Meßlatte. Genau in der Unvorhersehbarkeit von Klangfarben, die sich eben nicht am Libretto entlanghangeln liegt für den heutigen Hörer ein Grund des Fremden wie des Reizvollen, das von Frida Leiders Singen ausgeht.

Ein schönes Beispiel dafür ist die unschöne Stelle, an der Brünnhilde gegen Ende des zweiten Aktes der "Götterdämmerung" Siegfried verrät. Sie teilt Hagen mit wo er den unverwundbaren Helden tödlich treffen kann: im Rücken. Sie sagt das mehrmals, bevor Hagen den Wert der Information erkennt. Wenn sie es zum ersten Mal sagt, geschieht es eher beiläufig, im rezitativischen Tonfall: "Doch träfst du im Rücken ihn . . ." Wagner folgt der Sprache, schreibt also eine Punktierung für das Wort "Rücken" und eine Viertelnote für das Phrasenende. Frida Leider phrasiert hier, unter Furtwänglers Leitung, jedoch nicht einfach ab, sondern folgt dem Crescendo des Orchesters und kostet diese Viertelnote so lange aus wie möglich. Es ist ein schmerzlicher Vokal, den sie für dieses "ihn" parat hat. Im "i" liegt die ganze Kälte des Verrats, die luzide Bösartigkeit, zu der sich Brünnhilde gezwungen sieht, aber auch die Verletzung, die sie durch Siegfried erfahren hat.

Dergleichen wirkt nicht einstudiert. Mit einer im modernen Sinne durchpsychologisierten Rollengestaltung, in der der Text als Sinngerippe aus Vokalen und Konsonanten dauerpräsent ist, hat Frida Leider nichts zu tun. Auch wäre es falsch, ihr szenisches Singen zu attestieren, wie es heute üblich ist, weil die Kommunikation mit dem Parkett dominiert, wenn stimmliche Mittel oder stimmliche Phantasie nicht ausreichen. Was aber passiert statt dessen? Damit sind wir bei der schwierigsten, aber entscheidenden Antwort auf die Frage nach ihrem Singen.

Frida Leider identifizierte sich gewiß mit den Rollen, die sie sang, wofür ihre berühmte Aufnahme von Donna Annas D-Dur-Arie aus dem "Don Giovanni" ein eindringliches Beispiel gibt. Aber sie riß keine ihrer Partien zwischen Gluck, Mozart, Verdi, Weber oder Strauss selbstbewußt und naiv an sich. Dazu nahm sie sich zuwenig wichtig. Sie hatte ihren Stolz, ihre Eitelkeit und genoß ihren Erfolg. Aber sie sah sich als Dienerin eines letztlich unerreichbaren Kunstwerkes. Diese Haltung findet sich zweifellos auch bei Sängern späterer Generationen, doch sie hatte vor dem Zweiten Weltkrieg Konsequenzen, die ins Innerste des Singens hineinreichten. Persönliche Entäußerung fand, wenn überhaupt, innerhalb eines Rahmens statt, der sich durch den Stil konstituierte. Dieser Rahmen sorgte für innere Ruhe, manchmal sogar für eine gewisse Statik der Gestaltung, die etwa Frida Leiders Aida-Aufnahmen kennzeichnet und die sie von italienischer Stilistik wegrückt. (Vor diesem Hintergrund wäre die These ihres italienisch geschulten Gesangs neu zu befragen.) Der Rahmen gestattete innere Erregung, nicht aber die bei heutigen Könnern übliche vibrierende Nervositat des Singens. Es geht um eine Seelenkunst, noch nicht um eine Nervenkunst.

Die Wärme der Stimme überbrückt jede Distanz

In diesem Sinne verhindert Frida Leiders Heroik, daß der Zuhörer simpel partizipierend hineingerissen wird ins akustische Geschehen. Doch es bleibt ein dialektisches Verhältnis: Sosehr der Stil Distanz suggeriert, so sehr rückt die Wärme der Stimme das Anliegen der Figuren an den Hörer heran. Diese Spannung aus Ferne und Nähe gehört zum Kern von Frida Leiders Kunst, obwohl sie sich dessen möglicherweise gar nicht bewußt war. Es ist eine Heroik ohne Podest und als solche auch typisch für die schönstimmigen unter Leiders Kollegen: für Maria Müller, Alexander Kipnis oder Franz Völker. Damit ist freilich auch erklärt, warum Frida Leiders Liedaufnahmen für uns so schwer goutierbar sind. Bei den Minidramen von Schumann Brahms oder Wolf kann ein solcherart großbogiges Singen kaum greifen. Es blieb der Generation von Elisabeth Schwarzkopf und Dietrich Fischer-Dieskau vorbehalten, die vokale Erlebnisdynamik zu raffen und so das Singen einem modernen Zeitempfinden anzupassen.

So viel an Hörbeobachtungen läßt sich trotz der schlechten technischen Qualität der Aufnahmen rechtfertigen. Und erst vor diesem Hintergrund sei hier auf das hingewiesen, was sich an Faktischem leicht den Platten entnehmen läßt: daß die Stimmregister bei Frida Leider perfekt verblendet sind; daß die Vielseitigkeit ihres Repertoires zweifellos dem Wagner-Gesang zugute gekommen ist; daß die Stimme deshalb auch nach vielen Wagner-Jahren alt erstes wirkte, leicht ansprach und selbst bei Brünnhildes berüchtigtem "Hojotoho" zu einem sauberen Triller fähig war.

Wir haben ausgeblendet, was sich in jedem Lexikon nachlesen läßt: Frida Leiders Karrierestationen zwischen Bayreuth und Covent Garden, ihre Dirigenten zwischen Erich Kleiber und Furtwängler. Hervorzuheben an Biographischem wäre vor allem die Tatsache, daß sie während der ganzen NS-Zeit an ihrem jüdischen Ehemann festhielt und sich lieber von der Bühne zurückzog, als sich dem Druck des Regimes zu beugen.

Bleibt die Ausgangsfrage: Wozu brauchen wir Aufnahmen wie die Frida Leiders heute? Antwort: Man kann mit ihnen nur sinnvoll umgehen, wenn man sich ihre Ferne und Zeitlosigkeit gleichermaßen erschließt. Idealisierung nützt sowenig wie Ignoranz. Gesangstechnik läßt sich von Gesangsstil nicht trennen. Wer sich aber auf historisch gewordenes Singen in seiner Komplexität einläßt, der wird danach zweifellos anders hören, vielleicht anders singen und hoffentlich verantwortungsvoller urteilen. Deshalb kann man eine unlängst an der Berliner Staatsoper aufgetretene Bildungslücke auch als Symptom nehmen. Als die Chefdramaturgin des Hauses, an dem Frida Leider von 1921 bis 1952 tätig war, nach der Sopranistin gefragt wurde, fragte sie ungeniert zurück: "Muß man die kennen?" Man muß nicht. Wer es versäumt hat trotzdem etwas verpaßt.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. November 2005

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